Neulich befand sich in einer Auswahlsendung ein unscheinbarer Brief, frankiert mit einer 10-Pf.- Marke Mi.-Nr. 41. Das ist wahrlich keine Seltenheit, auch nicht bei einem Auslandsbrief im Wechselverkehr nach Österreich, für welchen nur der Inlandstarif erforderlich war. Rückseitig befindet sich ein Ankunftsstempel von Wien, welcher nur teilweise erkennbar ist, weil er auf dem breiten schwarzen Rand über den Briefklappen abgeschlagen ist. Ein Absender ist nicht vorhanden. Die beiden Abschläge des dreizeiligen Rahmenstempels von KÖNIGSTEIN sind auch keine Augenweide, weil der vollständige Stempel aus Gründen der Lesbarkeit so aufgesetzt wurde, dass er auch nicht teilweise auf dem schwarzen Rand abgedruckt ist. Da er auf diese Weise nur einen kleinen Teil der Marke abdeckte, hingegen aber die Pflicht bestand, die Marken möglichst vollständig zu entwerten, wurde ein zweiter Abschlag noch über Eck gesetzt.

Dennoch schaut man bei einem Trauerbrief schon einmal genauer hin, und da erwies es sich, dass er an eine Adelsadresse gerichtet ist. Die Anschrift lautet:

Son Altesse

Mme la Duchesse de Nassau

Vienne

Palais Nassau

Reissnerstr

also an „Ihre Hoheit, die Herzogin von Nassau“ („son“ ist an sich männlich, adjektivisch gebraucht für einen Besitzer oder eine Besitzerin, bedeutet es aber sowohl „seine“ als auch „ihre“). Briefe aus Adelskorrespondenzen sind nicht häufig, weil sie in der Regel in Familienarchiven aufbewahrt werden und normalerweise nicht in Sammlerhand gelangen. Dass solche Archive offiziell aufgelöst werden, kommt nur selten vor.

Wer war nun diese Herzogin von Nassau?

Das Herzogtum Nassau war einer der Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes. Das Land bestand nur 60 Jahre lang, und zwar von 1806 bis 1866. Es lag auf dem Gebiet der heutigen Bundesländer Hessen und Rheinland-Pfalz, seine Hauptstadt war Wiesbaden und bis 1816 zusätzlich Weilburg.

Herzog Adolf (auch geschrieben: Adolph) von Nassau, * 24.7.1817, † 17.11.1905, gehörte dem Adelsgeschlecht der walramischen Linie an und hatte einen Tag nach dem Tode seines Vaters Wilhelm am 29.8.1839 den Herzogsthron bestiegen. Nachdem das Herzogtum Nassau den Deutschen Krieg 1866 an der Seite Österreichs verloren hatte, wurde es von Preußen annektiert. Herzog Adolf hatte auf der „falschen“ Seite gestanden und verlor dadurch sein blühendes Nassauer Ländchen. Er wurde abgesetzt und musste sein Land verlassen. Durch Vertrag vom 18. September 1867 wurde er mit einer Entschädigung abgefunden. Das Herzogtum Hessen-Nassau trug fortan den Namen preußische Provinz Hessen-Nassau. Da die nassau-oranische Linie in den Niederlanden ausstarb, wurde Adolf im Jahre 1890 aufgrund eines Hausgesetzes Großherzog von Luxemburg. Als er 1905 starb, trat sein Sohn Wilhelm (Guillaume IV) die Nachfolge an. Mit dessen Tod war die walramische Linie 1912 im Mannesstamm erloschen (Angaben zum Herzogtum Nassau und Herzog Adolf sind entnommen bei wikipedia).

Laut dem Gothaischen Genealogischen Hofkalender von 1889, Verlag Justus Perthes, Seite 46, heiratete Herzog Adolf von Nassau am 31. Januar 1844 Elisabeth (Jelisaweta) Michailowna, Grossfürstin von Russland, Tochter des Grossfürsten Michael von Russland. Diese war am 26. Mai 1826 geboren und verstarb nach einjähriger Ehe, noch nicht einmal 19-jährig, am 28. Januar 1845. Der Herzog von Nassau hatte sie so sehr geliebt, dass er ihr in den Jahren 1847 bis 1855 die russisch-orthodoxe Kirche auf dem Neroberg in Wiesbaden erbauen ließ. Exkurs: Die Kirche wurde mehrfach renoviert. Zuletzt wurden anlässlich des Besuchs von Wladimir Putin in Wiesbaden im Oktober 2007 die fünf goldenen Kuppeln aufwändig gereinigt und für ca. 500.000 Euro neu vergoldet. Sie erstrahlen in vollem Glanz, und ein Besuch der Kirche ist architektonisch und von der Lage her sehr beeindruckend.

Nun wieder zur Sache: In zweiter Ehe heiratete Adolf von Nassau am 23. April 1851 Herzogin Adelheid Marie, Tochter des Prinzen Friedrich von Anhalt. Sie war die Adressatin des obigen Briefes.

Nachdem Herzog Adolf und seine Gemahlin Nassau verlassen hatten, lebten sie zunächst vorwiegend in Wien oder auf dem herzoglichen Schloß Hohenburg bei Lenggries, gelegentlich auch in seinem Palais in Königstein im Taunus.

Das Palais Nassau in Wien, wohin der Brief gerichtet ist, war 1872/73 im Stil der Wiener Neorenaissance erbaut worden. Israel Simon, ein Bankier aus Hannover und Vize-Konsul der Vereinigten Staaten, hatte es errichten lassen. Die Eingliederung des Königreichs Hannover durch Preußen hatte Simon zutiefst verletzt, und er folgte 1867 dem nach Wien geflohenen Georg V, König von Hannover, wo er diesen uneigennützig in Vermögensangelegenheiten beriet.

Kaum erbaut, ging das Palais schon 1874 in das Eigentum des Herzogs von Nassau über. Vor 1900 kam es in den Besitz der Russischen Botschaft, die es noch heute unter der Anschrift Reisnerstraße 45-47 beherbergt.

Wessen Tod im näheren Umfeld der Herzogin von Nassau im April 1883 Anlass für das Trauerbriefchen war, war leider nicht festzustellen.

Manfred Wiegand, Göttingen
wiegand.manfred [at] web.de