Ein nachgesandter Wertbrief
Der abgebildete Brief mit einer Wertangabe von 2.000,- Mark ist für das Inland tarifgerecht frankiert. Die Entfernung zwischen Berlin und Wiesbaden betrug über 10 Meilen, so dass ein Entfernungsporto von 40 Pf. zu entrichten war. Hinzu kam eine Versicherungsgebühr von 5 Pf. für je 300 Mark bzw. angefangene 300 Mark, insgesamt also 35 Pf., so dass das Gesamtporto für den Wertbrief 75 Pf. betrug.
Der Brief konnte in Wiesbaden nicht zugestellt werden und wurde dem Adressaten nach Waldhaus bei Flims bei Chur in der Schweiz nachgesandt. In Waldhaus wurde er mit drei Schweizer Portomarken im Wert von insgesamt 1,15 Franken versehen. Deutungsversuche hinsichtlich der Höhe dieser Nachfrankatur führten zunächst nicht zu einem schlüssigen Ergebnis. Entweder ergaben sie zu ein zu hohes oder zu niedriges Porto, oder es mussten Bruchteile entgegen den bestehenden Vorschriften gerundet werden, um das verklebte Porto zu erreichen.
Zunächst ist festzustellen, dass als Grundlage für die Portoermittlung das „Übereinkommen betr. den Austausch von Briefen und Kästchen mit Werthangabe“ vom 4. Juli 1891, RGBl. S. 535, galt, welches auf dem Wiener Postkongress beschlossen und am 1. Juli 1892 in Kraft getreten war. Die Vorschriften des Vereinsverkehrs über die Nachsendung von Briefen mit Wertangabe unterschieden sich von den Bestimmungen über die Nachsendung von Wertbriefen des inneren deutschen Verkehrs. Für die Nachsendung letzterer wurde in jedem Fall neues (Entfernungs-)Porto und neue Versicherungsgebühr erhoben. Im vorliegenden Fall, in dem der Wertbrief wegen der Veränderung des Aufenthaltsortes des Empfängers von einem Vereinsland in ein anderes Vereinsland nachgesandt worden war, war auch eine Nachtaxe zu erheben. Diese beschränkte sich jedoch auf die Erhebung einer neuen Zuschlagversicherungsgebühr.
Nach den Bestimmungen wurde für jedes an der Nachsendung beteiligte Land einschließlich des neuen, aber ausschließlich des ursprünglichen Bestimmungslandes als Zuschlagversicherungsgebühr der tarifmäßige Anteil von 10 Centimes für je 300 Franken bzw. angefangene 300 Franken gerechnet (Artikel 9 § 2 des Abkommens). Das war hier nur das Empfängerland, nämlich die Schweiz. Die Reichspost schied als Nachgebührenbezieher aus, was der Vorschrift entspricht, dass eine Nachsendung innerhalb des ursprünglichen Bestimmungslandes gebührenfrei zu erfolgen hat. Eine weitere Versicherungsgebühr war nur seitens der Schweizer Postverwaltung zu erheben. Bei einer Wertangabe von 2.000 Mark = 2.500 Franken waren das 9 x 10 Centimes = 90 Cts. Hier muss gesagt werden, dass der französische Franken dem schweizerischen entsprach und 90 Centimes somit 90 Rappen ausmachten. Der „T“-Stempel wurde von der deutschen Grenzausgangspostanstalt angebracht, und es war dann nach der Übergabe an die fremde Postverwaltung Aufgabe deren – hier der schweizerischen – Grenzeingangspostanstalt, diesen zu beachten und die entsprechende Berechnung und Taxierung vorzunehmen.
Von dem Betrag von 1,15 Franken sind somit zunächst 90 Rappen geklärt. Wofür wurde der Rest erhoben? Zunächst liegt es gedanklich nahe, ein Briefporto anzunehmen, welches in der Schweiz für den einfachen Brief 25 Rp. betrug. Aber wodurch könnte eine solche Annahme gerechtfertigt sein? Immerhin handelte es sich um einen Brief im Gewicht von 51g, so dass er der 4. Gewichtsklasse angehörte und daher eventuell ein Nachsendeporto von 1,00 Franken zu erheben gewesen wäre. Eine Portoerhebung nach dem Gewicht galt jedoch nur für Wertbriefe, deren Versand schon ursprünglich von einem Vereinsland in ein anderes Vereinsland, ggf. noch im Transit durch andere Länder, vorgesehen war. In diesem Falle, in dem ein Wertbrief des inneren deutschen Verkehrs nach einem anderen Vereinsland nachgesandt wurde, galt diese Regelung nicht. Den Vertragsländern war die Erhebung von postalischen Nebengebühren bei Wertbriefen im Vereinsverkehr nur insofern gestattet, als die Bestimmungsverwaltung, wenn sie die Zustellung der Sendungen in die Wohnungen der Empfänger vornahm, auch nach den inneren Bestimmungen eine Abtragegebühr erhob. In Deutschland wurde z. B. für Wertbriefe aus dem Auslande dasselbe Bestellgeld wie für Wertbriefe des inneren Verkehrs erhoben. Rechtlich ergab sich dieses aus Artikel 4 § 3 des Abkommens, in welchem es versteckt heißt:
„Es wird ausdrücklich vereinbart, daß, abgesehen von dem im Paragraphen 2 des nachfolgenden Artikels 9 bezeichneten Falle der Nachsendung, Briefe und Kästchen mit Werthangabe keiner anderen Postgebühr, als eintretendenfalls dem Bestellgeld, zu Lasten der Empfänger unterworfen werden dürfen.“
Es war also nicht erlaubt, zusätzlich zur Zuschlagversicherungsgebühr Briefporto, ggf. sogar gestaffelt nach Gewichtsstufen, zu berechnen, sondern bei der Zustellung von aus einem anderen Vereinsland zugeführten, nachgesandten Wertbriefen oder Kästchen mit Wertangabe durfte nur Bestellgeld erhoben werden. Dementsprechend kam hier für die Zustellung an den Empfänger ein Bestellgeld in Höhe von 25 Rappen zur Anwendung, so dass sich die Gesamtgebühr von 1,15 Franken ergibt.
Abschließend soll nicht unerwähnt bleiben, dass ich in meiner langjährigen Sammelpraxis außer dem hier gezeigten einen weiteren in das Ausland nachgesandten Wertbrief aus der Zeit von 1875 bis 1900 noch nicht gesehen habe.
Manfred Wiegand, Göttingen